„Jede Flutwelle könnte uns ertränken“ – Geschichten aus der Klimakrise

BERICHT VON AMNESTY INTERNATIONAL | Originalartikel (englisch): hier.
3. November 2022 | Index Number: IOR 40/6145/2022


 

Kurzfassung

 

„Wir wollen eine sichere und nachhaltige Umwelt, in der wir nicht nur Zugang zu gleichen Chancen haben und unseren Lebensunterhalt sichern können, sondern wo die Umwelt, in der wir leben sauber ist und in der wir die Vorteile der Umwelt genießen können, die schon unsere Vorfahren genossen haben.“

Edwina Biyau, Fidschi1

 

Die Klimakrise hat uns erreicht. In Wechselwirkung mit anderen sozioökonomischen und politischen Faktoren verschlechtert sie die Lebensbedingungen von Millionen von Menschen und hat die Verwirklichung ihrer Menschenrechte in noch weitere Ferne rücken lassen.

Die jüngsten Berichte des Zwischenstaatlichen Ausschusses für Klimaänderungen (IPCC) könnten nicht deutlicher sein: Das Zeitfenster zur Vermeidung noch katastrophalerer Auswirkungen schließt sich rasch.

Dennoch steigen die Treibhausgasemissionen weiter an, und die Staaten genehmigen weiterhin neue Projekte für fossile Brennstoffe und machen einen Rückzieher beim Ausstieg aus fossilen Energien. Diese Trends verschärfen sich vor dem Hintergrund der russischen Invasion in der Ukraine und dem weltweiten Anstieg der Energiepreise. Kein einziges wohlhabendes Industrieland reduziert seine Emissionen schnell genug, um eine weitere, durch den Klimawandel bedingte Erosion der Menschenrechte zu verhindern. Bisherige Zusagen werden zu einem Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur um 2,5°C führen, was für die Menschen auf der ganzen Welt katastrophale Folgen haben wird. Die wohlhabenderen Länder kommen ihren Verpflichtungen aus dem Pariser Abkommen und den Menschenrechten nicht nach, weniger wohlhabenden Ländern angemessene Finanzmittel und Unterstützung zur Verfügung zu stellen, um ihre Kohlenstoffemissionen zu reduzieren und um sich an die Auswirkungen des Klimawandels anzupassen. Reiche Industrienationen weigern sich auch weitgehend, ihren Verpflichtungen nachzukommen, Unterstützung und Wiedergutmachung für die Verluste und Schäden, die Länder des Globalen Südens erleiden, bereitzustellen.

Als Folge des Versagens der Regierungen – insbesondere der Regierungen reicher Länder – werden die Menschenrechte von Millionen von Menschen in allen Teilen der Welt verletzt. Die Klimakrise führt  zu einer Menschenrechtskrise von noch nie dagewesenem Ausmaß. Dies geht aus den Geschichten und Erfahrungen der betroffenen Gemeinschaften hervor, die in diesem Bericht vorgestellt werden. Ihre Geschichten verdeutlichen, wie die Auswirkungen des Klimawandels den Menschen schaden, wie der Klimawandel andere Schwachstellen verschlimmert und wie diese Veränderungen die Menschen daran hindern ein erfülltes Leben zu führen.

Doch die Menschen, die an vorderster Front von der Klimakrise betroffen sind, sind keine passiven Leidtragenden. Sie haben oft wichtige Vorschläge für konkrete und spezifische Maßnahmen zur Begrenzung der Auswirkungen des Klimawandels auf die Wahrnehmung ihrer Rechte.

In diesem Bericht werden die Erfahrungen von verschiedenen Gemeinschaften vorgestellt, um eine Momentaufnahme der negativen Auswirkungen zu geben, die der Klimawandel auf die Wahrnehmung der Menschenrechte in unterschiedlichen Kontexten hat. Er enthält sieben kurze Fallstudien. Jede davon fokussiert verschiedene Ereignisse im Zusammenhang mit dem Klimawandel, das Ausmaß und die Tragweite der negativen Auswirkungen auf die Menschenrechte und den unverhältnismäßig großen Schaden, den Menschen und Gruppen erleiden, die an den Rand gedrängt, vernachlässigt oder unterdrückt werden. Die Fallstudien wurden vom Internationalen Sekretariat von Amnesty International zusammengestellt, wobei einzelne Geschichten von Menschen aus den beschriebenen Gemeinschaften oder aus deren Umfeld gesammelt wurden, darunter von den Länderbüros von Amnesty International, lokalen Organisationen und Berater*innen.

Die Fälle im Südwesten von Bangladesch (Bezirke Satkhira und Khulna), im Südwesten von Honduras (Golf von Fonseca, Gemeinde Marcovia) und Senegal (Stadt Saint-Louis) zeigen besonders anschaulich die gravierenden Auswirkungen des Meeresspiegelanstiegs, der Sturmfluten und Überschwemmungen für das Recht auf Leben, Gesundheit, Nahrung, Wasser, sanitäre Einrichtungen, angemessene Wohnung, Arbeit und einen angemessenen Lebensstandard in verarmten und marginalisierten Küstengemeinden.

Die Fälle der Innu-Gemeinschaft von Pessamit in der Provinz Quebec, Kanada, und der indigenen Völker in Jakutien, Russische Föderation, veranschaulichen die erheblichen Auswirkungen, die die Klimakrise auf indigene Völker hat, insbesondere auf ihre kulturellen Rechte und ihre traditionelle Lebensweise.

Der Fall der Bewohner*innen des Daloumani Safe Home auf den Fidschi-Inseln ist ein Beispiel für die Auswirkungen des Klimawandels auf marginalisierte Menschen, die in informellen Siedlungen mit unzureichenden Unterkünften leben, sowie die übermäßige Belastung für  Menschen mit diverser sexueller Orientierung und/oder Geschlechtsidentität durch sich verstärkende Stigmatisierung und Diskriminierung.

Das Beispiel Österreichs und der Schweiz zeigt, wie die Rechte von älteren Menschen, Menschen mit Behinderungen und Menschen die von Obdachlosigkeit betroffen sind, durch häufigere und schwerere Hitzeperioden in Europa bedroht sind.

Jede Fallstudie gibt einen kurzen Überblick über den sozioökonomischen Kontext der beschriebenen Bevölkerung; Ereignisse im Zusammenhang mit dem Klimawandel, mit denen die Gemeinschaft oder Gruppe konfrontiert ist; andere Faktoren, die zur Umweltzerstörung beitragen und die Anfälligkeit für den Klimawandel erhöhen – wie etwa die Überfischung oder die Auswirkungen bestimmter Industrien, falls zutreffend; die Auswirkungen des Klimawandels und der Umweltzerstörung auf die die Gemeinschaften oder Gruppen; und gemeinschaftsbasierte Initiativen und Forderungen.

Dieser Bericht enthält keine umfassende Beschreibung aller Menschenrechtsauswirkungen, die diese und andere Gemeinschaften als Folge des Klimawandels erleiden. Er hat auch nicht die Absicht, eine umfassende Analyse der Maßnahmen zu liefern die von den nationalen und lokalen Behörden in den vorgestellten Ländern zur Bewältigung des Klimawandels und seiner Auswirkungen ergriffen wurden.

Stattdessen liefert der Bericht Momentaufnahmen von Erfahrungen der Gemeinden. Der Bericht ist eine Bereicherung für das vorhandene Material indem er die menschlichen Erfahrungen in den Vordergrund stellt und Verbindungen zwischen diesen Erfahrungen herstellt. Die Geschichten zeigen deutlich, wie die Auswirkungen des Klimawandels durch wirtschaftliche, soziale, politische und kulturelle Faktoren verstärkt werden, die bereits bestehende Situationen der Marginalisierung, Diskriminierung, Kolonialisierung und Unterdrückung noch verstärken. Sie zeigen, dass die Gemeinschaften trotz ihres Einfallsreichtums viel mehr Unterstützung von den Regierungen ihrer eigenen Länder und von wohlhabenderen Ländern benötigen, um die Anpassungsmaßnahmen zu ergreifen, die für einen angemessenen Schutz ihrer Menschenrechte vor den Auswirkungen des Klimawandels erforderlich sind. Sie zeigen auch die erheblichen Verluste und Schäden, die einige Gemeinschaften infolge der Klimakrise erleiden, und dass sie im Allgemeinen auf sich allein gestellt sind. Dies hat katastrophale Folgen für Gemeinschaften, die bereits verarmt und marginalisiert sind, und führt häufig zu Zwangsmigration, Verschuldung und Ausbeutung.

Indem wir uns die Geschichten und Empfehlungen derjenigen anhören, die erhebliche Auswirkungen des Klimawandels erleben, können wir lernen, verstehen, Zusammenhänge erkennen, uns empören und handeln. Dies gilt für Mitglieder der Öffentlichkeit, deren Leben durch die Klimakrise noch nicht völlig auf den Kopf gestellt wurde. Vor allem aber gilt es für diejenigen, die Machtpositionen innehaben, insbesondere für staatliche Akteure, internationale Regierungsorganisationen und den privaten Sektor. Nationale und lokale Politiker*innen und Beamt*innen, Unternehmensleiter*innen und Aktionär*innen, Finanzinstitutionen und Entscheidungsträger*innen in zwischenstaatlichen Organisationen müssen denjenigen zuhören, deren Rechte durch ihre Entscheidungen oder ihr Nichthandeln beeinträchtigt werden.

Die in diesem Bericht dargestellten Geschichten von Leid und Not sind ein Aufruf zum Handeln. Sie zeigen, wie dringend nötig es ist Gemeinschaften, Menschenrechte und Menschlichkeit über kurzfristige finanzielle und politische Interessen zu stellen.

Insbesondere müssen alle Staaten ihre Anstrengungen zur Eindämmung des Klimawandels (d. h. zur Verringerung der Kohlenstoffemissionen) und Anpassungsbemühungen verstärken, um die Menschenrechte so weit wie möglich zu schützen. Außerdem müssen sie menschenrechtskonforme Mechanismen einrichten, um angemessene finanzielle Mittel, technische Unterstützung und Zugang zu Rechtsmitteln, einschließlich Entschädigung, für Menschen, deren Rechte infolge der Klimakrise beeinträchtigt wurden, bereitszutellen. Die reichen Industriestaaten haben am meisten zum Klimawandel beigetragen und verfügen über die größten Ressourcen, daher haben sie eine verstärkte Verpflichtung, ihre Emissionen schneller zu reduzieren und Entwicklungsländer bei der Eindämmung des Klimawandels und der Anpassung zu unterstützen und Entschädigung für Verluste und Schäden zu finanzieren.

Die lokalen Organisationen, die zu den Fallstudien beigetragen haben, unterstützen die Handlungsaufforderungen und Empfehlungen.

 

ZUSAMMENFASSUNG DER EMPFEHLUNGEN AN ALLE STAATEN

  • Schutz der Menschen durch eine dringende Reduktion der Treibhausgasemissionen und insbesondere durch den schnellen Ausstieg aus fossilen Brennstoffen.
  • Verabschiedung und Umsetzung von menschenrechtskonformen Anpassungsmaßnahmen, die die Menschen angemessen vor den vorhersehbaren und unvermeidbaren Auswirkungen der Klimakrise schützen.
  • Sicherstellen, dass Maßnahmen, die Menschen vor den Auswirkungen des Klimawandels schützen sollen, nicht zu einer Verletzung anderer Menschenrechte führen und dass der Übergang zu einer kohlenstofffreien und widerstandsfähigeren Wirtschaft und Gesellschaft für alle gerecht, fair und inklusiv ist und dazu beiträgt, bestehende Ungleichheiten in Bezug auf die Wahrnehmung von und den Zugang zu Rechten zu korrigieren.
  • Das Recht auf Information und Beteiligung an der Entscheidungsfindung für alle zu garantieren, insbesondere für Gruppen und Gemeinschaften, die am stärksten von der Klimakrise, den Klimareaktionsmaßnahmen und anderen Wirtschafts- und Entwicklungsaktivitäten, die sich auf ihre Menschenrechte auswirken können, betroffen sind.
  • Die Rechte der indigenen Völker, einschließlich ihres Rechts auf Selbstbestimmung, ihres Rechts auf Land und auf freie, vorherige und informierte Zustimmung zu schützen, sowie die Anerkennung indigenen Wissens und indigener Wissenschaft.
  • Durchführung inklusiver und partizipatorischer Bedarfsermittlungen für Verluste und Schäden unter Berücksichtigung der negativen Auswirkungen des Klimawandels auf die Wahrnehmung der Menschenrechte und Gewährleistung, dass die am stärksten betroffenen Einzelpersonen und Gruppen in vollem Umfang beteiligt werden können.
  • Angemessene Ressourcen bereitstellen, um Verluste und Schäden anzugehen und zu beheben, unter anderem durch die Einrichtung einer internationalen Finanzfazilität für Verluste und Schäden, und sicherstellen, dass alle Reaktionen auf Verluste und Schäden inklusiv, intersektional und geschlechtsspezifisch sind und die Gleichberechtigung von Personen fördern, die bereits marginalisiert sind.
  • Wahrung der Menschenrechte von Menschen, die vertrieben wurden oder von Vertreibung bedroht sind.

 

ZUSAMMENFASSUNG DER EMPFEHLUNGEN AN REICHE INDUSTRIELÄNDER

  • Reduzieren Sie die Emissionen schneller, um den Entwicklungsländern keine unangemessenen Erwartungen hinsichtlich der Emissionsreduzierung aufzuerlegen.
  • Erhebliche Aufstockung der Mittel für weniger reiche Länder für menschenrechtskonforme Minderungs- und Anpassungsmaßnahmen.
  • Sicherstellen, dass die Klimafinanzierung zusätzlich zu den bestehenden Zusagen für die Entwicklungshilfe in Drittstaaten erfolgt, dass die Klimafinanzierung für einkommensschwache Länder in Form von Zuschüssen und nicht in Form von Darlehen erfolgt und dass ein besseres Gleichgewicht zwischen Klimaschutz- und Anpassungsfinanzierung erreicht wird.
  • Bereitstellung zusätzlicher und zweckgebundener Finanzmittel, technischer Unterstützung und Zugang zu Rechtsmitteln, darunter auch Entschädigung für Menschen in Entwicklungsländern, deren Rechte durch Verluste und Schäden, die durch die Klimakrise verursacht wurden, beeinträchtigt wurden.

 

1 Interview with Amnesty International, October 2021