Von Marie Stahlhofen
Im letzten Jahr haben die öffentlichen Diskussionen über Protestformen ein neues Maß erreicht: Die Empörung über als illegitim empfundenen Protest von Klimaaktivist*innen ist groß – ob dieser nun im Festkleben auf Autobahnen oder dem Einfärben von Kunstwerken oder Denkmälern liegt. Sowohl von staatlicher Seite als auch gesamtgesellschaftlich werden zunehmend härtere Sanktionen beziehungsweise ein „hartes Durchgreifen“ des Staates gegen Protestierende gefordert. Dabei nimmt auch die Sprache drastische Züge an – Aktivist*innen sind „Klimaterroristen“ oder werden mit Taliban verglichen.
Während über Einschränkungen diskutiert und Sanktionen gefordert werden, leidet die Versammlungsfreiheit. Diese ist als elementares Grund- und Menschenrecht sowohl in der deutschen Verfassung (Art. 8 GG), der Europäischen Menschenrechtskonvention (Art. 11 EMRK) und im UN-Zivilpakt (Art. 21) verbrieft. Gemeinsamer Kern ist, dass Menschen das Recht haben, friedlich zu gemeinsamen Zwecken zusammenzukommen und für diese zu protestieren. Das Versammlungsrecht ist auch Grundvoraussetzung für jede Demokratie – denn eine „Herrschaft des Volkes“ besteht nicht nur aus einem periodischen Wahlakt, sondern insbesondere auch daraus, dass Menschen sich jederzeit über Proteste am öffentlichen und politischen Leben beteiligen und darauf Einfluss nehmen können. Diese Bedeutung ist gemeinhin anerkannt und in Deutschland auch durch die „Brokdorf“-Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gefestigt. Allerdings gibt es – wie im öffentlichen Diskurs wohl zurzeit kaum zu überhören – Grenzen der Versammlungsfreiheit. Fraglich ist nur, wo diese aus menschenrechtlicher Sicht liegen:
Zentraler Streitpunkt ist das Prinzip des zivilen Ungehorsams – ein Begriff, mit dem viel hantiert wird, ohne, dass seine Grenzen stets scharf definiert sind. Im Allgemeinen ist anerkannt, dass ziviler Ungehorsam ein Sammelbegriff für Protestformen ist, die vorsätzlich gegen innerstaatliche Gesetze verstoßen, aber sich dennoch häufig als gewaltlos verstehen. Ziel ist in der Regel entweder der direkte Protest gegen als ungerecht empfundene Gesetze oder das effektive Erregen von Aufmerksamkeit durch disruptiven Protest, um gesellschaftliche Veränderung zu bewirken: Indem Alltagsprozesse wie das Autofahren oder Sehgewohnheiten gestört werden, kann die Gesellschaft vor der Botschaft der Aktivist*innen nicht mehr die Augen verschließen, so die Idee.
Zunächst ist festzustellen, dass nach dieser Definition nicht alles ziviler Ungehorsam ist, was als solcher empfunden wird: Auch störende Proteste verletzen nicht immer Gesetze – dies gilt besonders für das „Verschmutzen“ öffentlicher Gegenstände, wenn die Verfärbungen leicht und ohne Rückstände zu entfernen sind. Dann handelt es sich nicht um Sachbeschädigung. Gerade hier stellt also das Fordern von (strafrechtlichen) Sanktionen eine gefährliche Einschränkung des Grund- und Menschenrechts der Versammlungsfreiheit dar. Wenn Politiker*innen solche Forderungen verbreiten, obwohl sie rechtlich unbegründet sind, wird dadurch die gesellschaftliche Unkenntnis über den rechtlichen Rahmen von Versammlungen verstärkt – das schreckt ab und verstärkt ein versammlungsfeindliches Klima.
Aber auch Proteste, die tatsächlich innerstaatliche Gesetze verletzen, können allein deshalb aus menschenrechtlicher Sicht nicht verurteilt werden. Auch der UN-Menschenrechtsausschuss stellt fest: „Wenn das Verhalten der Teilnehmer einer Versammlung friedlich ist, führt die Tatsache, dass bestimmte innerstaatliche Rechtsvorschriften für eine Versammlung von den Organisatoren oder Teilnehmern nicht eingehalten wurden, nicht dazu, dass die Teilnehmer vom Schutz des Artikels 21 ausgeschlossen sind“[1]. Das entscheidende Kriterium ist also die Friedlichkeit des Protests – nicht notwendigerweise die Beachtung innerstaatlicher Gesetze. Eine andere Beurteilung wäre auch höchst gefährlich: Denn sonst könnte die Reichweite von Menschenrechten durch nationale Gesetze bestimmt werden. Damit würden sie weitgehend ihre Bedeutung verlieren.
Folgt daraus, dass Versammlungen nicht durch nationale Gesetze begrenzt werden dürfen? Nein – aber: Die Gesetze müssen ein ausgewogenes Verhältnis zwischen dem Schutz der Versammlungsfreiheit und dem von möglicherweise anderen betroffenen Rechtsgütern finden.
Genau dieses Verhältnis ist gerade in den neuerdings verabschieden Versammlungs- oder Polizeigesetzen der Bundesländer in den letzten Jahren – genannt seien nur Bayern, Nord-Rhein-Westfalen[2] und Hessen[3] – sehr problematisch: Die Versammlungsfreiheit wird immer weiter eingeschränkt, teilweise anhand von sehr unbestimmten Rechtsbegriffen, die der Polizei großen Spielraum zum heftigen Eingreifen in einer Vielzahl von Fällen lassen: Die nun vielfach angeordnete 30-tägige Präventivhaft in Bayern, die weitgehenden Observations- und Videobefugnisse der Polizei durch das neue Versammlungsgesetz in Hessen und weitere abschreckende Maßnahmen und Erlaubnisse folgen der gleichen Logik: Versammlungen werden als Gefahr – und nicht als notwendiger Bestandteil – der freiheitlichen Demokratie gesehen. Infolgedessen gelten Teilnehmende vor allem als eins: potenziell gefährlich. Sie riskieren zunehmend Sanktionen, Kriminalisierung und Überwachung.
Diese gesetzliche Entwicklung scheint auf einen gesellschaftlich fruchtbaren Boden zu fallen: Die Empörung über als störend empfundene Protestformen ist weiterhin groß. Dabei ist gerade aus zivilgesellschaftlicher Sicht die Erkenntnis, dass auch disruptiver Protest unter dem Schutz der Menschenrechte steht, dringend notwendig. Hier lohnt auch ein Blick in die Geschichte von Protestbewegungen: Diese waren stets dort erfolgreich, wo sie Aufsehen erregt, gestört und aufgebracht haben. Den Aktivist*innen genau dieses Mittel als pauschal illegitim abzusprechen ist deshalb höchst falsch.
Zuletzt sei in Bezug auf Klimaaktivist*innen gesagt: Die Klimakrise zählt zu den größten Menschenrechtskrisen des 21. Jahrhunderts. Das Recht auf Leben, auf Ernährung, auf Zugang zu sauberem Wasser, das Recht auf saubere Umwelt und so viele mehr sind elementar bedroht. Menschen sterben täglich an den Folgen der Klimakrise und diese Zahl nimmt jedes Jahr zu. Zuletzt kostete der Zyklon „Freddy“ in Malawi und Madagaskar 400 Menschenleben, mehr als 200.000 Menschen haben ihre Häuser verloren. Es war der am längsten andauernde tropische Zyklon seit Beginn der Wetteraufzeichnungen – Extremwetterereignisse wie diese werden durch die Klimakrise wahrscheinlicher und zerstörerischer.
Wer sich für eine Bekämpfung der Klimakrise einsetzt, setzt sich daher für Menschenleben ein. Deshalb gilt: Klimaaktivist*innen sind Menschenrechtsverteidiger*innen. Die Einschränkungen der Versammlungsfreiheit auf politischer Ebene und das versammlungsfeindliche gesellschaftliche Klima bedrohen eines ihrer elementarsten Menschenrechte.
[1] UN Menschenrechtsausschuss (CCPR), General Comment 37: Right of peaceful assembly (Art. 21), 27.07.2020, UN Doc. CCPR/C/GC/37, para 16.
[2] Amnesty zum Landesversammlungsgesetz NRW: https://www.amnesty.de/informieren/positionspapiere/deutschland-amnesty-stellungnahme-einfuehrung-versammlungsgesetz-nrw
[3] Grundrechtekomitee zum Hessischen Versammlungsfreiheitsgesetz: https://www.grundrechtekomitee.de/details/gestutzte-versammlungsfreiheit-umfassende-kritik-am-schwarz-gruenen-entwurf-fuer-ein-hessisches-versammlungsgesetz