ARTIKEL VON AMNESTY INTERNATIONAL | Originalartikel (englisch): hier. 10. Mai 2023
Amnesty International fordert heute, dass soziale Sicherheit für alle Menschen weltweit zugänglich gemacht werden muss, nachdem eine Reihe von Krisen riesige Lücken in den staatlichen Hilfs- und Schutzsystemen offenbart hat, so dass Hunderte von Millionen Menschen von Hunger bedroht oder in einem Kreislauf von Armut und Mangel gefangen sind.
In einem heute veröffentlichten Briefing mit dem Titel “Steigende Preise, wachsende Proteste: Die Notwendigkeit eines universellen Sozialschutzes” (Rising Prices, Growing Protests: The Case for Universal Social Protection) fordert die Menschenrechtsorganisation auch einen internationalen Schuldenerlass und drängt die Staaten, Steuerreformen durchzuführen und gegen Steuermissbrauch vorzugehen, um erhebliche Mittel für den Sozialschutz freizusetzen.
„Eine Kombination von Krisen hat gezeigt, wie schlecht viele Staaten darauf vorbereitet sind, den Menschen lebenswichtige Hilfe zukommen zu lassen. Es ist schockierend, dass mehr als 4 Milliarden Menschen, d.h. etwa 55 % der Weltbevölkerung, nicht einmal über den grundlegendsten sozialen Schutz verfügen, obwohl das Recht auf soziale Sicherheit seit 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert ist“, sagte Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International.
Das Papier zeigt, wie steigende Lebensmittelpreise, der Klimawandel, die wirtschaftlichen Folgen der Covid-19-Pandemie und der Einmarsch Russlands in der Ukraine zu einer katastrophalen humanitären Krise führen und eine Zunahme sozialer Unruhen und Proteste zur Folge haben.
Der Bericht fordert die Staaten auf, dafür zu sorgen, dass die soziale Sicherheit – wie Kranken- und Erwerbsunfähigkeitsleistungen, Gesundheitsfürsorge, Renten für ältere Menschen, Kindergeld, Familienleistungen und Einkommensunterstützung – allen Menschen zur Verfügung steht, die sie benötigen.
Das Briefing zeigt zudem, wie der Mangel an sozialer Sicherheit in vielen Staaten dazu führt, dass Gemeinschaften plötzlichen wirtschaftlichen Erschütterungen, den Folgen von Konflikten, dem Klimawandel oder anderen Umwälzungen stärker ausgesetzt sind. Die Folgen dieser Krisen, darunter weit verbreiteter Hunger, höhere Arbeitslosigkeit und Wut über den sinkenden Lebensstandard, haben weltweit zu Protesten geführt, die oft brutal unterdrückt wurden.
„Ein universeller Sozialschutz kann die Verletzungen wirtschaftlicher und sozialer Rechte angehen, die häufig der Grund für Beschwerden und Proteste sind. Anstatt friedliche Proteste als Ausdruck des Versuchs der Menschen zu sehen, ihre Rechte einzufordern, haben die Behörden häufig mit unnötiger oder übermäßiger Gewaltanwendung auf Demonstrationen reagiert. Friedlicher Protest ist ein Menschenrecht, und Amnesty International setzt sich für den Schutz des Protests ein (Kampagne „Protect the Protest“)“, sagte Agnès Callamard.
In dem Briefing werden die internationalen Gläubiger aufgefordert, die Schulden umzuschichten oder zu erlassen, damit die Länder den Sozialschutz besser finanzieren können. Die Internationale Arbeitsorganisation (International Labour Organization, ILO) schätzt die Kosten für eine soziale Grundsicherung in allen Staaten mit niedrigem und mittlerem Einkommen auf 440,8 Milliarden US-Dollar pro Jahr. Das ist weniger als die 500 Milliarden US-Dollar, die nach Schätzungen des Tax Justice Network jährlich von den Staaten an Steuerparadiese in aller Welt verloren gehen.
Amnesty International fordert die Staaten auf, zusammenzuarbeiten und alle verfügbaren Ressourcen zu nutzen sowie ihre Steuersysteme zu reformieren, um Steuerhinterziehung und den Verlust wichtiger Einnahmen zu verhindern, damit Mittel zur Verbesserung des Sozialschutzes zur Verfügung stehen.
„Die Menschen sind durch diese Krisen in die Knie gezwungen worden, und wenn es darum geht, die Probleme in der Welt zu lösen, sind die Lösungen selten einfach, aber wir wissen, dass die Staaten ernsthaft gegen den Steuermissbrauch vorgehen sollten“, sagte Agnès Callamard.
Um das Recht auf soziale Sicherheit zu garantieren, unterstützt Amnesty International die Einrichtung eines international verwalteten Globalen Fonds für sozialen Schutz, ein Konzept, das vom UN-Sonderberichterstatter für extreme Armut und Menschenrechte, dem UN-Generalsekretär und der ILO unterstützt wird.
Die Einrichtung eines Fonds würde den Staaten technische und finanzielle Unterstützung bieten, um soziale Sicherheit zu gewährleisten, und würde darauf abzielen, die Kapazitäten der nationalen Sozialschutzsysteme zu stärken, damit sie in Krisenzeiten besser reagieren können.
Hunger, Armut und Proteste
Das Fehlen einer angemessenen sozialen Absicherung kann für die wachsende Zahl von Menschen, die sich keine Nahrungsmittel leisten können, katastrophale Folgen haben.
Nach Angaben des Welternährungsprogramms (World Food Programme, WFP) sind 349 Millionen Menschen weltweit unmittelbar von Nahrungsmittelknappheit bedroht, und 828 Millionen gehen jede Nacht hungrig zu Bett.
Darüber hinaus hat die Covid-19-Pandemie laut dem “Bericht über die Ziele für nachhaltige Entwicklung 2022” (“Sustainable Development Goals Report 2022“) fast vier Jahre Fortschritt bei der Armutsbekämpfung zunichte gemacht und weitere 93 Millionen Menschen in die extreme Armut getrieben, die mit weniger als 2,15 US-Dollar pro Tag auskommen müssen.
Das Fehlen wirksamer Maßnahmen zur Eindämmung von Inflation und Engpässen hat zu einer Abwärtsspirale im Lebensstandard der Menschen geführt. Dies hat in jüngster Zeit zu Protesten in der ganzen Welt geführt, unter anderem im Iran, in Sierra Leone und in Sri Lanka.
Der Preisanstieg bei Lebensmitteln und anderen lebenswichtigen Gütern hat die Menschen in Ländern mit niedrigem Einkommen am härtesten getroffen, aber die zunehmende Inanspruchnahme von Essensausgaben und Lebensmittelhilfen (z.B. die Tafeln (Anm.)) in reicheren Ländern zeigt, dass die Krise der Lebenshaltungskosten und der Erschwinglichkeit von Lebensmitteln weit verbreitet ist.
Der Einmarsch Russlands in die Ukraine, einem wichtigen Getreideproduzenten, hat der weltweiten Lebensmittelversorgung einen verheerenden Schlag versetzt und den Lebensmittelpreisindex der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (Food and Agriculture Organization, FAO) auf den höchsten Stand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1990 getrieben. Auch der Klimawandel und die steigenden Düngemittelpreise haben die landwirtschaftliche Produktion beeinträchtigt. Der FAO zufolge ist die Dürre der größte Einzelverursacher von Ernterückgängen.
Soziale Sicherheit, Steuern und Schulden
Amnesty International ist Teil einer wachsenden Koalition von Expert*innen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die die Staaten auffordern, schrittweise einen universellen Sozialschutz einzuführen und die damit verbundenen Vorteile zu realisieren.
Agnès Callamard sagte: „Der Schutz der Menschen vor Verlusten aufgrund von Krisen, Katastrophen oder wirtschaftlichen Rückschlägen kann sowohl für die Gesellschaft als auch für den Staat, der die Unterstützung gewährt, einen Wandel bewirken, indem er soziale Spannungen und Konflikte verringert und den Wiederaufbau fördert. Dadurch können Kinder in der Schule bleiben, die Gesundheitsversorgung wird verbessert, Armut und Einkommensungleichheit werden verringert, und letztlich profitieren die Gesellschaften wirtschaftlich.“
„Wir können nicht weiter wegschauen, wenn die Ungleichheit immer größer wird und die Leidtragenden auf der Strecke bleiben. Steuerhinterziehung und aggressive Steuervermeidung durch Einzelpersonen und Unternehmen entziehen Staaten und insbesondere Ländern mit niedrigem Einkommen die Ressourcen, die sie brauchen.“
Die hohe Verschuldung und die damit verbundenen Kosten führen dazu, dass hoch verschuldete Staaten oft nicht über die finanziellen Möglichkeiten verfügen, um die Ziele der sozialen Sicherheit zu erreichen. Oxfam zufolge geben einkommensschwache Länder viermal mehr für die Rückzahlung von Schulden aus als für die Bereitstellung von Gesundheitsdiensten und 12-mal mehr für Schuldenzahlungen als für den Sozialschutz.
Dem Jahresbericht des IWF (Internationaler Währungsfonds) zufolge sind rund 60 % der einkommensschwachen Länder verschuldet oder hochgradig gefährdet und laufen Gefahr, ihre Schulden nicht zurückzahlen zu können. Ein Schuldenerlass oder eine Umschuldung würde in vielen Ländern erhebliche Mittel für den Sozialschutz freisetzen.