Historische Klimaklage in Straßburg – Klimaseniorinnen erringen bedeutenden Sieg vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte

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Am 09.04.2024 hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) der Beschwerde des Schweizer Vereins der Klimaseniorinnen stattgegeben (Urt. v. 09.04.2024, Verein Klimaseniorinnen Schweiz and Others v. Switzerland).[1] Es wurde entschieden, dass die Schweiz die Menschenrechte der älteren Frauen verletzt, weil das Land nicht genügend Klimaschutzmaßnahmen ergreift. Damit hat die erste internationale Klimaklage Erfolg gehabt.[2] Dies wird in Zukunft die Rechtsprechung in Europa und in der Welt auch bei weiteren klimabezogenen Verfahren prägen.

I. Was sind Klimaklagen?

Klimaklagen sind Gerichtsverfahren, die darauf abzielen, Staaten und Unternehmen für klimabedingte Schäden und versäumte Klimaanpassungen zur Rechenschaft zu ziehen. In einem Bericht von UNEP[3] wurden für 2022 in der Summe 2.180 derartige Verfahren in 65 verschiedenen Rechtskreisen identifiziert. Meist handelt es sich bei den Klagenden um Bürger*innen oder Nichtregierungsorganisationen. Wesentliches Ziel dieser Klagen ist es, die konkreten klimaschutzbezogenen Pflichten von Staaten oder Unternehmen darzulegen und das Defizit der bislang ergriffenen Mittel aufzuzeigen. Die Kläger*innen nutzen dabei rechtliche Argumentationsmuster und Gesetzesspielräume innovativ aus, um Staaten und Unternehmen auf ihre Verpflichtungen zum Klimaschutz hinzuweisen. In den vergangenen Jahren haben diese Verfahren immer mehr an Bedeutung für einen effektiven Klimaschutz gewonnen.

II. Was wurde in Straßburg entschieden?

Am 09.04.2024 hat der EGMR insgesamt drei klimabezogene Verfahren entschieden (Klimaseniorinnen v. Schweiz[4]; Duarte Agosthino et al. v. Portugal et al.[5]; Carème v. Frankreich[6]) Hierbei gingen die Beschwerdeführenden gegen verschiedene Mitgliedstaaten des Europarates vor. Kernargument war dabei, dass unzureichende Maßnahmen zum Schutze des Klimas zur Verletzung von Menschenrechten führen. Etwa wird die Gesundheit von Menschen durch Extremwetterereignisse gefährdet Hierdurch sollten die betreffenden Staaten dazu aufgefordert werden, einen effektiveren Klimaschutz zu betreiben.

Der von den sog. Klimaseniorinnen und einigen Individualpersonen erhobenen Beschwerde[7] wurde stattgegeben. Begründung war eine Verletzung des Rechts auf Privat- und Familienleben nach Art. 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) sowie des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 EMRK.

Die Klimaseniorinnen sind ein in der Schweiz eingetragener Verein, dessen über 2500 Mitglieder Seniorinnen sind. Das Durchschnittsalter beträgt 73 Jahre. Der Verein verfolgt das Ziel, das Bewusstsein für Klimaschutz in der Gesellschaft zu stärken. Zuvor hatten die Klimaseniorinnen vor den schweizerischen Gerichten Klagen gegen die Regierung erhoben, um so einen besseren Klimaschutz von dieser einzufordern.

Allerdings wiesen die Schweizer Gerichte die Klagen in allen Instanzen ab, wodurch die Klimaseniorinnen im Jahre 2020 eine Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte einlegten. Wesentliches Argument der Klimaseniorinnen war dabei, dass der Klimawandel insbesondere ältere Menschen gefährde. Sie sind aufgrund von Extremwetterereignissen wie beispielsweise Hitzewellen gesundheitlichen Risiken besonders ausgesetzt. Am 09.04.2024 erkannte der EGMR eine Verletzung von Art. 8 EMRK an. Die Begründung war hierbei, dass der Klimawandel Gefahren für Leib und Leben nach sich ziehe und bisherige Maßnahmen der Schweiz nicht ausreichten, um diesen Gefahren adäquat zu begegnen.

III. Was ist das Besondere an den Urteilen vom 09.04.2024?

Erstmals hat sich ein internationales Gericht intensiv mit Klimaklagen auseinandergesetzt und dieser Klage stattgegeben. Bislang konnten derartige richtungsweisende Entscheidungen nur auf nationaler Ebene errungen werden. Dies wird in Zukunft Auswirkungen auf weitere internationale Klimaklagen haben und so die Rechtsprechung zum Klimaschutz über Europa hinaus prägen.

Besonders spannend an der Klimaseniorinnen-Entscheidung ist insbesondere die Frage, ob den Beschwerdeführenden die Opfereigenschaft zugestanden werden konnte.[8] Eine Beschwerde nach dem EMRK, die sich aus Art. 34 EMRK ergibt, setzt diese Opfereigenschaft voraus. Das meint, dass eine beschwerdeführende Person besonders von einer staatlichen Maßnahme betroffen sein muss. Aufgrund dessen wurden die Beschwerden der Einzelpersonen abgewiesen, da diese nicht imstande Waren, den gerade beschriebenen engen Bezug zwischen ihren potenziell betroffenen Grundrechtspositionen und dem Klimawandel darzulegen.

Jedoch wurde dem Verein der Klimaseniorinnen die Opfereigenschaft zuerkannt. Hierzu verweist der EGMR auf seine bisherige Rechtsprechung, in der bereits Kriterien entwickelt wurden, um für bestimmte Organisationen ein Verbandsklagerecht zu begründen. Richtungsweisendes Urteil in diesem Kontext ist dabei „Center for Legal Resources on behalf of Valentin Câmpeanu v. Romania“, in dem erstmals Leitlinien für Verbandsklagen entwickelt wurden. Diese Voraussetzungen hat der EGMR vorliegend als erfüllt angesehen, wodurch ein Verbandsklagerecht für Klimaklagen anerkannt wurde.

Allerdings hat der EGMR eine große Chance zur Förderung globaler Gerechtigkeit ausgelassen:[9] Im Verfahren „Duarte Agostino“ stand im Kern auch die extraterritoriale Anwendbarkeit der EMRK hinsichtlich der Auswirkungen des Klimawandels zur Diskussion. Extraterritoriale Anwendbarkeit bedeutet, dass ein Staat menschenrechtliche Verpflichtungen über seine eigenen Landesgrenzen hinaus wahren muss. In Duarte Agostino stand genau dieser Punkt zur Debatte, da die Beschwerdeführenden nicht bloß gegen Portugal, sondern auch gegen zahlreiche weitere Staaten vorgingen. Dabei argumentierten sie im Kern, dass aufgrund der besonderen Umstände des Klimawandels eine derartige extraterritoriale Anwendbarkeit notwendig sei. Dem trat der EGMR jedoch entgegen. Dies dürfte in Zukunft dazu führen, dass Personen außerhalb eines Mitgliedstaates des Europarates der Zugang zum EGMR verwehrt bleiben dürfte. So dürften Menschen aus dem Globalen Süden keine Möglichkeit haben, Staaten des Globalen Nordens für ihre ökologische (und historische) Verantwortlichkeit zur Rechenschaft zu ziehen.

IV. Welche Trends sind in puncto Klimaklagen in Zukunft zu erwarten?

Zunächst sind zahlreiche weitere Klimaklagen vor nationalen und internationalen Gerichten anhängig. In Deutschland ist beispielsweise das Verfahren Saúl v. RWE besonders hervorzuheben.[10] In diesem Verfahren klagt der peruanische Bauer Saúl Luciano Lliuya gegen den deutschen Energiekonzern RWE.

Neben Klimaklagen im oben ausgeführten Sinne beschäftigen sich einige internationale Gerichte aber auch auf andere Weise mit internationalem Klimaschutz. Eine dabei genutzte Methode ist die Anfertigung einer sog. Advisory Opinion. Bei einer Advisory Opinion handelt es sich um ein Gutachten, das ein Gericht zur Klärung einer bestimmten Rechtsfrage erstellt. Das Gericht selbst entscheidet jedoch über keinen Fall, sondern berät lediglich. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag bereitet momentan eine Advisory Opinion mit Bezug zu Klimaschutzverpflichtungen im Völkerrecht vor.[11] Auch der Interamerikanische Gerichtshof in San José arbeitet derzeit an einer Advisory Opinion, die sich mit menschenrechtlichen Aspekten der Klimakrise auseinandersetzt.[12] Schließlich hat der Internationale Seegerichtshof in Hamburg kürzlich seine Advisory Opinion zu klimabezogenen Verpflichtungen unter dem Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen veröffentlicht.[13]

(Giacomo Sebis)


[1] Siehe: https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22appno%22:[%2253600/20%22],%22itemid%22:[%22001-233206%22]} (letzter Abruf: 09.06.2024).

[2] Siehe: https://www.lto.de/recht/hintergruende/h/egmr-urteile-klimaklagen-klimaseniorinnen-portugiesische-jugendliche-duarte-agostinho-careme-staaten-klimaschutz/ (letzter Abruf: 09.06.2024).

[3] Siehe: https://www.unep.org/resources/report/global-climate-litigation-report-2023-status-review (letzter Abruf: 09.06.2024).

[4] Siehe: https://hudoc.echr.coe.int/app/conversion/pdf/?library=ECHR&id=003-7919428-11026177&filename=Judgment%20Verein%20KlimaSeniorinnen%20Schweiz%20and%20Others%20v.%20Switzerland%20-%20Violations%20of%20the%20Convention%20for%20failing%20to%20implement%20sufficient%20measures%20to%20combat%20climate%20change.pdf (letzter Abruf: 09.06.2024).

[5] Siehe: https://hudoc.echr.coe.int/app/conversion/pdf/?library=ECHR&id=003-7919494-11026295&filename=Grand%20Chamber%20decision%20Duarte%20Agostinho%20and%20Others%20v.%20Portugal%20and%2032%20Others%20-%20inadmissible.pdf (letzter Abruf: 09.06.2024).

[6] Siehe: https://hudoc.echr.coe.int/app/conversion/pdf/?library=ECHR&id=003-7919474-11026266&filename=Grand%20Chamber%20Decision%20Car%C3%AAme%20v.%20France%20-%20inadmissible.pdf (letzter Abruf: 09.06.2024).

[7] Siehe: https://hudoc.echr.coe.int/eng#{%22appno%22:[%2253600/20%22],%22itemid%22:[%22001-233206%22]} (letzter Abruf: 09.06.2024).

[8] Siehe: https://verfassungsblog.de/historic-and-unprecedented/ (letzter Abruf: 09.06.2024).

[9] Siehe: https://voelkerrechtsblog.org/de/no-global-climate-justice-from-this-court/ (letzter Abruf: 09.06.2024); https://verfassungsblog.de/on-the-duarte-agostinho-decision/ (letzter Abruf: 09.06.2024).

[10] Siehe: https://rwe.climatecase.org/de (letzter Abruf: 09.06.2024).

[11] Siehe: https://www.icj-cij.org/case/187 (letzter Abruf: 09.06.2024).

[12] Siehe: https://www.corteidh.or.cr/docs/opiniones/soc_1_2023_en.pdf (letzter Abruf: 09.06.2024).

[13] Siehe: https://itlos.org/fileadmin/itlos/documents/cases/31/Advisory_Opinion/C31_Adv_Op_21.05.2024_orig.pdf (letzter Abruf: 09.06.2024).