Historisches Urteil: OLG Hamm Entscheidet über Klimaklage gegen RWE

von Lena Hedtke, Alexa Schurer, Giacomo Sebis

Große Emittenten können für Folgen des Klimawandels haftbar gemacht werden. Revolutioniert dieses Urteil den Klimaschutz?

Seit gut 10 Jahren läuft nun schon die Klage des peruanischen Landwirten Saúl Luciano Lliuya gegen den Großkonzern RWE. Seine Heimatstadt, gelegen in den peruanischen Anden, wird durch die Gletscherschmelze bedroht. Ein über der Stadt liegender See könnte überlaufen und die Stadt überschwemmen. Seine Forderung: RWE soll gemäß seiner Emissionen einen Anteil der Kosten für die erforderlichen Schutzmaßnahmen übernehmen.

Foto: Walter Hupiu Tapia / Germanwatch e.V.

Saúl kommt aus der Stadt Huaraz im nördlichen Teil Perus. Oberhalb der Stadt liegt der Palcacocha-See, ein auf 4500 Meter Höhe gelegener Gletschersee. Hinter dem See befindet sich ein Gletscher, bei dem nun die Gefahr besteht, dass sich große Teile lösen und in den See stürzen. Diese würden den See überfluten und in Huaraz zu meterhohen Überschwemmungen führen. 1941 löste sich bereits einmal ein Gletscherstück, überflutete die Stadt und kostete mehreren tausend Menschen das Leben. Seitdem gab es außerdem, beispielsweise im Jahr 2019 und 2024, Lawinen, deren darauf folgende meterhohe Wellen durch den Damm noch abgehalten werden konnten.

Lliuya klagte am 24.11.2015 vor einem deutschen Zivilgericht gegen den Energiekonzern RWE. RWE ist einer der größten CO2-Einzelemittenten in Europa und allein für knapp 0,5% der menschengemachten Emissionen seit Beginn der Industrialisierung verantwortlich. Aufgrund der Mitverschuldung RWEs für den Klimawandel, war es nun Saúls Ziel, diese Mitschuld an der Klimakrise auf die Bedrohung seiner Heimat durch die Folgen des Klimakrise  zu übertragen, und RWE dazu zu verpflichten, die anteiligen Kosten von ca. 0,5 % für den Schutz seiner Stadt zu übernehmen.

Nachdem Lliuya mit Hilfe von Germanwatch und der Klimaanwältin Roda Verheyen gegen RWE am 24.11.2015 vor dem Landgericht Essen klagte, wurde die Klage 2016 vom Landgericht mit der Begründung abgewiesen, dass die Emissionen von RWE nicht direkt für die Klimarisiken in Huaraz verantwortlich seien. Hiergegen legte Saúl Berufung ein, die 2017 vom Oberlandesgericht (OLG) Hamm für zulässig erachtet wurde. Somit kam es erstmals zu einer zugelassenen Klage, in der die unternehmerische Verantwortlichkeit für Klimarisiken verhandelt wurde. Am 30.11.2017 beschloss das OLG Beweise zu erheben, woraufhin im Mai 2022 ein Sachverständiger gemeinsam mit einigen Richter*innen des OLG Hamm für einen Ortsbesuch nach Peru reiste. Im August 2023 legte der Sachverständige das daraus resultierende Gutachten vor. Schließlich fanden im März 2025 die mündlichen Verhandlungen am OLG in Hamm statt, wofür Saúl nach Deutschland kam. Am 28.05.2025 verkündete das Gericht das Urteil. Laut diesem muss RWE sich nicht an den Schutzmaßnahmen für das Haus beteiligen, da in absehbarer Zeit keine Gefahr drohe, aber: Grundsätzlich können große Emittenten von CO2 haftbar gemacht werden, wenn eine konkrete Beeinträchtigung drohe, und die Störereigenschaft des Unternehmens erfüllt sei.

Was wurde konkret entschieden und warum ist es so bedeutsam?

RWE ist also im vorliegenden Fall nicht direkt haftbar und muss Saúl keine finanzielle Unterstützung für Klimaanpassungsmaßnahmen zahlen. Dies erscheint im ersten Augenblick als Niederlage und Misserfolg für strategische Gerichtsprozesse zum Zwecke des Klimaschutzes zu sein – genauso wurde das Urteil in der deutschen Medienlandschaft zum Teil auch aufgefasst.

Das täuscht jedoch über zwei historische und absolut einmalige Aspekte dieser Entscheidung hinweg: Erstens die innovative rechtliche Begründung, die der Klage zugrunde lag, sowie zweitens die Tatsache, dass eine Haftung von Großemittenten von nun an grundsätzlich angenommen werden kann und es ausschließlich an den spezifischen, individuellen Umständen des Verfahrens von Saúl scheiterte, das Saúl finanzielle Unterstützung verlangen konnte – hätten die Dinge etwas anders gelegen, hätte Saúl vielleicht sogar eine finanzielle Inanspruchnahme begründen können.

© Germanwatch

Innovative Interpretation des Rechts für Klimagerechtigkeit

Zunächst war die rechtliche Begründung für das Verfahren sehr innovativ. Saúl stützte seine Klage auf § 1004 Abs. 1 des BGB, des deutschen Zivilgesetzbuchs. Diese Vorschrift kommt normalerweise zur Anwendung, wenn das Eigentum einer Person beeinträchtigt wird und vom Störer eine Beseitigung der Beeinträchtigung verlangt wird. Wenn also jemand in das Eigentum einer anderen Person eingreift, kann diese unter Berufung auf diesen Paragraphen vor Gericht verlangen, dass der Störer die Beeinträchtigung unterlässt.

Ein typischer Anwendungsfall für diese Vorschrift sind Streitigkeiten bei Grundstücksnachbarn, wenn etwa Pflanzen oder Bäume in ein Nachbargrundstück hineinwachsen oder Obst auf Nachbargrundstücken landet. In solchen Fällen kann der Eigentümer des beeinträchtigten Grundstückes eine Beseitigung der hineinwachsenden Pflanzen oder Bäume oder des herabgefallenen Obstes verlangen.

Dieser Grundgedanke wurde im Verfahren von Saúl aufgegriffen. Zwischen einem Großemittenten wie RWE sowie Saúl besteht aufgrund des grenzüberschreitenden Charakters der Klimakrise eine Art globales Nachbarschaftsverhältnis – die Auswirkungen der CO2-Emissionen von RWE sollen also ähnlich auf das Grundstück von Saúl einwirken der Baumbewuchs eines unmittelbaren Grundstücksnachbarn. Und genau auf diesen Fall wurde § 1004 Abs. 1 BGB angewendet, um zu begründen, warum RWE CO2-Emissionen unterlassen und im Zweifel für die Anpassung an die Auswirkungen der Klimakrise zahlen soll.

Das Gericht hat diese Neuinterpretation von § 1004 Abs. 1 BGB grundsätzlich zugelassen und so bisher noch nicht erkannte Potenziale dieser im Grunde recht farblosen Vorschrift ermöglicht.

Finanzielle Inanspruchnahme von Großemittenten rechtlich möglich

Dass § 1004 Abs. 1 BGB vom Gericht als Anspruchsgrundlage für diesen Fall anerkannt wurde, hat zudem weitreichende Folgen: Es bedeutet nämlich, dass Großemittenten wie RWE grundsätzlich für die Kosten von Klimaanpassung in Anspruch genommen werden können.

Dies ist sowohl in Deutschland als auch weltweit das erste Urteil, in dem eine finanzielle Verantwortlichkeit für große CO2-Emittenten im Grundsatz festgestellt wurde. In vorangegangenen Verfahren gegen Großemittenten wurde eine finanzielle Verantwortung entweder abgelehnt oder war – wie im vielzitierten Verfahren Milieudefensie v. Shell aus den Niederlanden – gar nicht Thema des Rechtsstreits. Nun gibt es jedoch einen ersten Präzedenzfall, der sich ausführlich mit den rechtlichen Fragestellungen rund um finanzieller Verantwortlichkeiten von CO2-Emittenten auseinandergesetzt hat.

Allerdings konnte diese allgemeine Feststellung ihren ersten Lackmustest im hiesigen Verfahren nicht bestehen – nicht, weil es rechtliche Zweifel gab, sondern weil es der Sachverhalt um das Grundstück von Saúl es schlicht nicht hergab, die rechtlich notwendigen Hürden zu überwinden. Damit ein Anspruch aus § 1004 Abs. 1 BGB begründet werden kann, müssen einige Voraussetzungen dieser Vorschrift erfüllt sein. Insbesondere müssen die Emissionen für die klimabedingten Gefahren an Saúls Grundstück überhaupt mit ursächlich sein, der Beitrag von RWE erheblich genug, um rechtlich relevant zu sein, und die Schadenswahrscheinlichkeit am Grundstück hoch genug, damit RWE überhaupt zur Verantwortung gezogen werden kann. Die ersten beiden Aspekte hatte das Gericht zugunsten von Saúl beantwortet: Die CO2-Emissionen von RWE seien mit ursächlich für die klimabedingten Gefahren am Grundstück, und weil die Emissionen von RWE 0,47 % der globalen CO2-Emissionen betragen, sei er auch ausreichend erheblich. Lediglich die Schadenswahrscheinlichkeit am Grundstück war zu niedrig: Gerichtlich bestellte Gutachter hatten festgestellt, dass die Wahrscheinlichkeit, dass das Grundstück von Saúl in den nächsten 30 Jahren von einer Überschwemmung betroffen sein könnte, lediglich 1 % beträgt – in den Augen des Gerichts zu niedrig, um rechtlich zu einer Verantwortlichkeit zu führen.

Was für eine Bedeutung hat das Urteil für zukünftige Klimaklagen sowie für globale Klimagerechtigkeit?

Das Urteil erkennt erstmals an, dass Unternehmen für ihre Mitverantwortung an der globalen Klimakrise zivilrechtlich haftbar gemacht werden können. Insofern kommt Großemittenten wie RWE zumindest prinzipiell die Aufgabe zu, ihren klimatischen Fußabdruck zu senken, um Haftungsrisiken zu entgehen.

Erhebliche Beiträge zum Klimawandel können eine rechtswidrige Beeinträchtigung von Eigentumsrechten darstellen, so das Gericht. Diese Art von Argumentation kann nun in Gerichtssälen weltweit zitiert und angewendet werden, und könnte damit das zukünftige Klimaklagen erheblich erleichtern.

Zusätzlich wurde mit dem Urteil eine gewisse internationale Zuständigkeit europäischer Gerichte festgestellt, was so viel bedeutet wie, dass europäische Gerichte grundsätzlich über Klimaklagen von nicht in Europa lebenden Personen entscheiden können. Betroffene dürfen allerdings wählen, ob sie das Recht des Staates  anwenden möchten, in dem klimaschädliche Handlungen  ausgeführt wurden, oder dort, wo der Schaden auftreten könnte. Saùl hat sich in seinem Fall für das Klagen in Deutschland entschieden, also dem Ort, in dem Klimaschäden durch RWE ausgeführt wurden. Auch der Aufenthaltsort spielt laut Gericht bei einer Klage keine Rolle, solange Eigentum betroffen ist. Kläger*innen können sich also auch dauerhaft an einem anderen Ort befinden, als da, wo der Schaden des Eigentums auftritt, beziehungsweise wo anders, als da, wo sich beispielsweise das betroffene Grundstück der Kläger*in befindet.

Im Fall Saùl sei laut Jan-Erik Schirmer, einem Experten für Klimahaftung, der Klage ein winziges Detail zum Verhängnis geworden: „Hätte nicht Lliuya geklagt, sondern ein Nachbar mit einem flussnäheren Grundstück, hätten die Sachverständigen das Überflutungsrisiko wahrscheinlich deutlich höher bewertet und das OLG Hamm auf eine drohende Beeinträchtigung erkannt.“

Könnte das Urteil eine Klagewelle verursachen, wodurch Gerichte überfordert werden könnten? Das OLG Hamm teilt diese Befürchtung, die von RWE während des Verfahrens aufgebracht wurde, nicht. Dennoch sei es möglich, dass das Urteil als Türöffner für weitere Klimaklagen genutzt wird. Die Sorge vor Klimaklagen könnte für Großemittenten bedeuten, dass diese künftig das Risiko rechtlicher Haftungen stärker in ihre Geschäftsmodelle einkalkulieren werden müssen. Der Anreiz, die Emissionen zu reduzieren, könnte sich damit nicht nur für RWE verstärken, und eine „Verbesserung“ der Klimaschutzbemühungen freiwillig eintreten. Ist ein Unternehmen einmal in einem Prozess beteiligt, spielt nicht nur das finanzielle Risiko, sondern auch das Reputationsrisiko eine Rolle. Investoren achten verstärkt auf Klimahaftungsfaktoren und investieren gerade nicht da, wo Massenklagen drohen könnten.

Trotz allem scheitern viele Klagen weiterhin an prozessualen Hürden,  der Zurückhaltung der Gerichte oder Beweisproblemen. Es scheint zudem schwierig zu sein, vorherzusehen, wie Gerichte in anderen Rechtsräumen unter Berücksichtigung lokaler Gesetze ähnliche Sachverhalte behandeln würden, wobei in Ländern, wie Großbritannien, USA, Niederlande oder Japan vergleichbare gesetzliche Vorgaben gelten wie in Deutschland. Da es sich beim Anspruch auf Beendigung einer Eigentumsbeeinträchtigung nicht um “juristisches Hochreck” handelt, sondern um einen ganz elementaren Anspruch, der in vielen Rechtsordnungen zum Teil mit ähnlichen Ansprüchen besteht, ist es zumindest denkbar, dass die Argumentationsmuster aus Saúl v. RWE rezipiert und von anderen Gerichten in ihre Begründungen eingebaut werden.


Quellen und weiterführende Links