Pressemitteilung | Original (englisch): hier | 12. November 2025
- Eine einzigartige Kartierungsinitiative in Verbindung mit qualitativer Forschung in mehreren Ländern zeigt das Ausmaß und die Tragweite der potenziellen Schäden durch die Industrie auf
- 520 Millionen Kinder leben im Umkreis von 5 km um Infrastrukturen für fossile Brennstoffe – darunter potenzielle „Opferzonen“
- Umweltverschmutzung und kulturelle Plünderung durch Zwang, Einschüchterung und Delegitimierung von Land- und Umweltrechtsverteidiger*innen
Die Infrastruktur für fossile Brennstoffe gefährdet die Gesundheit und Lebensgrundlage von mindestens 2 Milliarden Menschen weltweit, also etwa einem Viertel der Weltbevölkerung. Zu diesem Ergebnis kommen Amnesty International und Better Planet Laboratory in einem neuen Bericht über die Schäden, die die fossile Brennstoffindustrie weltweit für das Klima, die Menschen und die Ökosysteme verursacht.
Der Bericht „Extraction Extinction: Why the lifecycle of fossil fuels threatens life, nature, and human rights” zeigt, dass der gesamte Lebenszyklus fossiler Brennstoffe unersetzliche natürliche Ökosysteme zerstört und die Menschenrechte untergräbt, insbesondere die derjenigen, die in der Nähe von Infrastrukturen für fossile Brennstoffe leben. Es ist erwiesen, dass die Nähe zu Kohle-, Öl- und Gasinfrastrukturen das Risiko für Krebs, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, negative Auswirkungen auf die Fortpflanzungsfähigkeit und andere negative Gesundheitsfolgen erhöht. Amnesty International hat sich mit dem Better Planet Laboratory (BPL) der University of Colorado Boulder zusammengetan, um in einer einzigartigen Kartierungsaktion das potenzielle Ausmaß der globalen Schäden durch bestehende und zukünftige Standorte für die Förderung fossiler Brennstoffe zu schätzen.
„Die stetig wachsende fossile Brennstoffindustrie gefährdet Milliarden von Menschenleben und verändert das Klimasystem irreversibel. Bislang gab es keine globale Schätzung der Anzahl der Menschen, die in unmittelbarer Nähe zu fossilen Brennstoffinfrastrukturen leben. Unsere Zusammenarbeit mit BPL zeigt das Ausmaß der enormen Risiken, die fossile Brennstoffe während ihrer gesamten Lebensdauer mit sich bringen. Kohle-, Öl- und Gasprojekte treiben das Klimachaos voran und schaden Mensch und Natur“, sagte Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International.
„Dieser Bericht liefert weitere Belege dafür, dass Staaten und Unternehmen die Weltwirtschaft „entfossilisieren“ müssen, um die schlimmsten Auswirkungen der Klimakrise auf die Menschenrechte abzuschwächen. Das Zeitalter der fossilen Brennstoffe muss jetzt enden.“
Auf der Grundlage von Forschungsergebnissen und globalen Berechnungen hat BPL das Ausmaß der Gefährdung durch fossile Brennstoffinfrastrukturen kartiert, indem Daten zu den bekannten Standorten fossiler Brennstoffinfrastrukturen mit gerasterten Bevölkerungsdaten, Datensätzen zu kritischen Ökosystemen, Daten zu globalen gerasterten Tagesemissionen und Daten zum Landbesitz indigener Völker überlagert wurden. Die Ergebnisse von BPL unterschätzen wahrscheinlich das tatsächliche globale Ausmaß aufgrund von Diskrepanzen in der Dokumentation fossiler Brennstoffprojekte und begrenzten Volkszählungsdaten in den einzelnen Ländern.
Der Bericht basiert auch auf einer eingehenden qualitativen Untersuchung, die in Zusammenarbeit mit der Smith Family Human Rights Clinic der Columbia Law School durchgeführt wurde und Interviews mit mehr als 90 Personen umfasst, darunter direkt betroffene Personen aus handwerklichen Fischergemeinden in Brasilien (Guanabara-Bucht), indigene Landverteidiger*innen in Kanada (Wet’suwet’en-Gebiet) und Küstengemeinden im Senegal (Saloum-Delta), Wissenschaftler*innen, Journalist*innen, zivilgesellschaftliche Organisationen und Regierungsbeamt*innen. Außerdem werden Open-Source-Daten und Fernerkundung genutzt, um die Ergebnisse zu untermauern und zu visualisieren. Ergänzt wurden diese durch die Ergebnisse und Schlussfolgerungen früherer Untersuchungen und laufender Kampagnen von Amnesty International gegen Öl- und Gaskonzerne in Ecuador, Kolumbien und Nigeria.
Erschütternde Zahlen der gefährdeten Bevölkerung
Mindestens 2 Milliarden Menschen leben im Umkreis von 5 km um mehr als 18.000 in Betrieb befindliche Standorte fossiler Brennstoffinfrastrukturen, die über 170 Länder weltweit verteilt sind. Davon sind schätzungsweise mehr als 520 Millionen Kinder und mindestens 463 Millionen leben im Umkreis von 1 km um diese Anlagen, wodurch sie einem viel höheren Umwelt- und Gesundheitsrisiko ausgesetzt sind.
Indigene Völker sind unverhältnismäßig stark betroffen, da sich über 16 % der weltweiten fossilen Brennstoffinfrastruktur auf indigenen Gebieten befindet. Mindestens 32 % der kartierten bestehenden fossilen Brennstoffanlagen überschneiden sich mit einem oder mehreren „kritischen Ökosystemen”.*
Die fossile Brennstoffindustrie expandiert weiter: Weltweit sind mehr als 3.500 Standorte für fossile Brennstoffinfrastrukturen geplant, in Entwicklung oder im Bau. Die Zahlen von BPL deuten darauf hin, dass durch diese Expansion mindestens 135 Millionen Menschen zusätzlich gefährdet werden könnten. Bemerkenswert ist, dass die Zahl der Öl- und Gasprojekte auf allen Kontinenten zunehmen wird, während die Zahl der Kohlekraftwerke und -minen vor allem in China und Indien steigt.
„Die Regierungen haben sich verpflichtet, fossile Brennstoffe auslaufen zu lassen, aber wir haben jetzt eindeutige Beweise dafür, dass neue Projekte im Bereich fossiler Brennstoffe weiterhin bevorzugt in unseren weltweit kritischsten Ökosystemen expandieren. Dies steht in direktem Widerspruch zu den erklärten Klimazielen“, sagte Ginni Braich, Senior Data Scientist bei BPL, die die Studie leitete, auf der die globalen Ergebnisse des Berichts basieren.

Die menschlichen Kosten der fossilen Brennstoffproduktion
„Wir leiden unter einer generationsübergreifenden Kampfmüdigkeit … Wir werden [das] physisch nicht überleben. Wir waren nie die Anstifter*innen, aber wir haben die Hauptlast der Gewalt getragen“, sagte die Landverteidigerin der Wet’suwet’en, Tsakë ze‘ Sleydo‘ (Molly Wickham), als sie den bevorstehenden Bau neuer Kompressoren beschrieb, die die Rentabilität der Coastal GasLink (CGL)-Pipeline in Kanada steigern sollen.
Die Gewinnung, Verarbeitung und der Transport fossiler Brennstoffe untergraben die Menschenrechte benachbarter Gemeinschaften und verursachen schwere Umweltschäden, Gesundheitsrisiken und den Verlust von Kultur und Lebensgrundlagen.
Einige der befragten Gruppen beschrieben die Förderung als eine Form der wirtschaftlichen oder kulturellen Plünderung, die von Unternehmen durch Einschüchterung und Zwang betrieben wird. „Wir sind nicht auf Geld aus, wir wollen nur das, was uns zusteht. Wir wollen einfach nur in der Guanabara-Bucht fischen, das ist unser Recht. Und sie nehmen uns unsere Rechte weg“, sagte Bruno Alves de Vega, ein städtischer Kleinfischer aus Rio de Janeiro, Brasilien.
Alle von Amnesty International befragten Menschenrechtsverteidiger*innen im Umweltbereich und Verteidiger*innen indigener Landrechte waren schweren Sicherheitsrisiken ausgesetzt, die oft auf Konflikte mit Unternehmen zurückzuführen waren, deren Aktivitäten die traditionelle Lebensweise und die Integrität des Ökosystems bedrohen.
Über physische und Online-Bedrohungen hinaus greifen Staaten und Unternehmen auf Rechtsstreitigkeiten zurück und missbrauchen rechtliche Schritte, einschließlich Strafverfahren, um Verteidiger*innen zum Schweigen zu bringen, zu delegitimieren und einzuschüchtern. „Wenn wir uns zur Verteidigung des Yin’tah (Wet’suwet’en-Gebiet) erheben, werden wir kriminalisiert. Zivilrechtliche Unterlassungsklagen sind eine koloniale Rechtswaffe, die zu einem Mechanismus für die Militarisierung unserer Gemeinschaft, die Kriminalisierung unseres Volkes und für Unternehmen zur Durchführung destruktiver Rohstoffgewinnung ohne die Zustimmung der indigenen Bevölkerung geworden ist“, sagten andere Landverteidiger*innen der Wet’suwet’en.
Mitglieder von Gemeinschaften, die in unmittelbarer Nähe zu Infrastrukturen für fossile Brennstoffe leben, verurteilten den Mangel an direkter und sinnvoller Konsultation und Transparenz seitens der Unternehmen. Viele gaben an, den Umfang der laufenden Aktivitäten oder Expansionspläne der Betreiber*innen nicht vollständig zu verstehen, und erklärten, dass sie den Projekten, die ihr Gebiet betreffen, nicht zugestimmt hätten.
Von Amnesty International im Saloum-Delta im Senegal befragte Personen äußerten Bedenken hinsichtlich der schlechten Verbreitung zugänglicher Informationen über die potenziellen ökologischen und sozioökonomischen Auswirkungen des Sangomar-Projekts durch die Behörden und den Projektbetreiber Woodside, ein großes australisches Unternehmen für fossile Brennstoffe.
„Diese Fallstudien sind nur einige Beispiele für ein globales Problem. Die meisten betroffenen Gruppen verurteilten das Machtungleichgewicht zwischen ihren Gemeinschaften und den Unternehmen sowie das Fehlen wirksamer Abhilfemaßnahmen. Das Zeitalter der fossilen Brennstoffe neigt sich unweigerlich dem Ende zu, und die Staaten müssen aufhören, Umweltaktivist*innen, die für den Schutz ihrer Gemeinschaften kämpfen, zu kriminalisieren“, sagte Candy Ofime, Researcherin und Rechtsberaterin für Klimagerechtigkeit bei Amnesty International.
„Die Staaten müssen physische und online gerichtete Bedrohungen gegen Menschenrechtsverteidiger*innen untersuchen und robuste Schutzprogramme einrichten, um sicherzustellen, dass kritische Stimmen, die sich für eine dringende und gerechte Energiewende einsetzen, Klimaschutzmaßnahmen sicher und sinnvoll gestalten können.“
Zerstörung unersetzbarer natürlicher Ökosysteme
Die meisten der dokumentierten Projekte führten zur Entstehung von Umweltverschmutzungs-Hotspots und verwandelten nahegelegene Gemeinden und wichtige Ökosysteme in „Opferzonen“.** Die Exploration, Verarbeitung, Standorterschließung, der Transport und die Stilllegung fossiler Brennstoffe verursachten oder riskierten Schäden für Menschen und Wildtiere, führten zu schwerer Umweltverschmutzung, Treibhausgasemissionen und schädigten wichtige Biodiversitätsgebiete oder Kohlenstoffsenken.
Trotz der im Rahmen internationaler Klimaabkommen eingegangenen Verpflichtungen und wiederholter Aufrufe der Vereinten Nationen, fossile Brennstoffe dringend auslaufen zu lassen, sind die Maßnahmen der Regierungen völlig unzureichend. Fossile Brennstoffe machen nach wie vor 80 % der weltweiten Primärenergieversorgung aus, während die Industrie ihre Bemühungen verstärkt, in klimapolitischen Foren unangemessenen Einfluss auszuüben, um deren raschen Ausstieg zu verhindern.
„Die Staaten sollten eine vollständige, schnelle, faire und finanzierte Abkehr von fossilen Brennstoffen und einen gerechten Übergang zu erneuerbaren Energien, die in Übereinstimmung mit den Menschenrechten erzeugt werden, einleiten. Amnesty International fordert dringend die Verabschiedung und Umsetzung eines Vertrags über die Nichtverbreitung fossiler Brennstoffe“, sagte Agnès Callamard.
„Die Klimakrise ist Ausdruck und Katalysator tief verwurzelter Ungerechtigkeiten. Dieser Bericht ist eine Antwort auf die Vision des Gastgeberlandes Brasilien, die diesjährige COP30 zu einem Forum für die sinnvolle Beteiligung von Waldvölkern, einschließlich indigener Völker und traditioneller Gemeinschaften sowie der Zivilgesellschaft, zu machen. Unser Bericht deckt das Ausmaß der Klima- und Menschenrechtsverletzungen auf, die mit der weltweiten Produktion fossiler Brennstoffe verbunden sind, veranschaulicht die ungleichen Auswirkungen der Industrie auf indigene Völker und traditionelle Gemeinschaften und hebt deren Widerstand hervor.
Die fossile Brennstoffindustrie und ihre staatlichen Förderer argumentieren seit Jahrzehnten, dass die menschliche Entwicklung fossile Brennstoffe benötigt. Wir wissen jedoch, dass sie unter dem Deckmantel des Wirtschaftswachstums stattdessen der Gier und dem Profit ohne Grenzen gedient, Rechte fast völlig straffrei verletzt und die Atmosphäre, die Biosphäre und die Ozeane zerstört haben. Gegen diese anhaltenden Muster, gegen die globale politische Ökonomie der Unterdrückung durch fossile Brennstoffe müssen wir uns gemeinsam wehren und von den Staats- und Regierungschefs der Welt verlangen, dass sie ihren Verpflichtungen und Zusagen nachkommen. Die Menschheit muss gewinnen.“
Schlüsselbegriffe
*Kritische Ökosysteme: natürliche Lebensräume, die reich an biologischer Vielfalt sind, für die Kohlenstoffbindung von entscheidender Bedeutung sind und/oder in denen eine anhaltende Umweltzerstörung oder Katastrophen einen kaskadenartigen Zusammenbruch des Ökosystems auslösen würden.
** Opferzone: ein stark kontaminiertes Gebiet, in dem einkommensschwache und marginalisierte Bevölkerungsgruppen unverhältnismäßig stark der Belastung durch Umweltverschmutzung und giftige Substanzen ausgesetzt sind.
